Platzverweis

Wissenschaftliche Untersuchung zur Situation von Frauen und zum Beratungsangebot nach einem Platzverweis bei häuslicher Gewalt – kurz: „Platzverweis -> Hilfen und Beratung

Auftragsförderung: Sozialministerium Baden-Württemberg, jetzt: Ministerium für Arbeit und Soziales
Laufzeit:10/2002 – 09/2004
Leitung:Prof. Dr. Cornelia Helfferich
Team:Heidi Beilharz, Dipl. Soz.-Päd.; Ute Bluthardt, Dipl. Soz.-Päd.; Eva Bornschein, Dipl. Soz.-Päd.; Julia Ewald, Dipl. Soz.-Päd.; Elisabeth Federer, Dipl. Soz.-Päd.; Anneliese Hendel-Kramer, M.A. soz.; Monika Hotel, Dipl. Soz.-Päd.; Prof. Dr. Barbara Kavemann, Petra Kämmer-Kupfer, Dipl. Soz.-Päd.; Katrin Lehmann, Dipl.-Päd.; Heike Rabe, Ass jur.; Corina Schröter, Dipl. Soz.-Arb.; Birgit Schweizer, Dipl. Soz.-Päd.; Veronika Thierfelder, Dipl. Soz.-Päd.; Rainer Wagner
Typ der Forschung:Grundlagenforschung mit Anwendungsbezug; Schwerpunkt: Qualitative Forschung, teilnarrative Interview; ergänzend Dokumentenanalyse und standardisierte Methoden

Fragestellung

Seit 2002 gibt es in Baden-Württemberg eine polizeirechtlich verankerte Interventionsmöglichkeit bei häuslicher Gewalt: Die Polizei kann für einen befristeten Zeitraum den Täter/die Täterin aus der Wohnung weisen. Dies stellt einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel dar, weil mit der staatlichen Intervention signalisiert wird, dass Gewalt im privaten Bereich nicht geduldet wird und weil der Zugriff auf Täter im Verfahren verankert ist. Für das Opfer wird Beratung angeboten, die allerdings aufgrund der jeweiligen kommunalen Strukturen auf unterschiedlichen Wegen erreichbar und inhaltlich unterschiedlich ausgestaltet ist. In der vom Sozialministerium Baden-Württemberg in Auftrag gegebenen Studie wurde die subjektive Sicht der Opfer rekonstruiert, um eine Basis für Schlussfolgerungen zu gewinnen, wie Beratung zu gestalten und in das Verfahren einzubinden ist.

Forschungsdesign

  • Erhebung von Hintergrundinformationen zu N=12 Regionen in Baden-Württemberg (kontrastierend zusammengestellt, Dokumentenanalyse, Expertenbefragung)
  • Qualitative Interviews, N=30 Opfern häuslicher Gewalt in zehn Regionen zur Erfassung der subjektiven Perspektive und der biografischen Dynamik (teilnarrativ, Auswertung hermeneutisch-rekonstruktiv); N=12 Zweitinterviews
  • Auswertung von N=171 Polizei- und N=29 Gerichtsakten in zwei Regionen zur Erhebung von institutionellen Verläufen von Verfahren
  • Validierung der Ergebnisse und Erarbeitung von Leitlinien: Diskussion mit Beratern und Beraterinnen in zwei Fachgesprächen

Ergebnisse

Häusliche Gewalt kommt in sehr unterschiedlichen Kontexten und bei sehr unterschiedlichen Frauen vor. Häufig gibt es eine Vorgeschichte von Gewalt. Frauen, die lange in der Gewaltbeziehung bleiben, z.B. weil sie ökonomisch von dem Mann abhängig sind, tauchen möglicherweise immer wieder mit Platzverweisen und Polizeieinsätzen in der Statistik auf.

Da der Platzverweis einen starken Eingriff in Grundrechte bedeutet, ist sein Anwendungsfeld eng definiert und begrenzt: Er kann nur im Zusammenhang mit einer akuten Gefahrensituation und einer entsprechenden Gefahrenprognose ausgesprochen werden. Dies ist den Opfern nicht immer klar, die vom Platzverweis mehr erwarten. Es sind weitere Unterstützungsangebote notwendig, die helfen, die Gewaltbeziehung geplant und zielgerichtet zu verlassen – auch außerhalb der eng definierten Situation (der akuten Gefahrensituation), in der der Platzverweis greift. Platzverweis und Flucht in ein Frauenhaus ergänzen einander.

Ein wichtiges Ergebnis der Forschung ist eine Differenzierung nach vier Mustern, wie Frauen in der Gewaltbeziehung gelebt haben bzw. leben und wie sie sich selbst bezogen auf ein aktives und effektives Handeln erlebt haben bzw. erleben: (1) „rasche Trennung“, (2) „Gewalteskalation in der Trennungsphase“, (3) „psychische Abhängigkeit nach Traumatisierung, ambivalente Bindung“ und (4) „neue Chance“. Daraus folgen Unterschiede bezogen auf Beratungsbedarf, Beratungsbarrieren und Zugang zu Beratung. Die Experten und Expertinnen bestätigten die Muster und nannten diese analytische Unterscheidung hilfreich. Bei allen Angeboten ist innerhalb der Gruppe „Opfer häuslicher Gewalt“ nach unterschiedlichen Mustern von erlebten Gewaltbeziehungen zu differenzieren.

Die Wirksamkeit des Platzverweises ist verbunden

  • mit der Niedrigschwelligkeit bezogen auf eine bewusste Vorab-Planung, mit der das Verfahren ausgelöst wird (ein Telefonanruf in einer Gefahrensituation),
  • mit der Sanktionsmächtigkeit der eingreifenden Institutionen (Polizei, Justiz) und dem folgenden Zugriff auf den Täter,
  • mit dem Eingriff von außen in eine Beziehung, die möglicherweise von dem Opfer selbst „von innen“ nicht verändert werden kann, und einer Entlastung des Opfers,
  • mit einer Stärkung der Position des Opfers gegenüber dem Misshandler.

Der Platzverweis wurde von fast allen befragten Frauen sehr positiv bewertet, auch dann, wenn er eine Krise erzeugte und vor (zu) hohe Anforderungen eines Neubeginns stellte. Gerade die Wirksamkeit und die Konsequenzen können Opfer, die keine Unterstützung erfahren und die weit reichende Entscheidungen treffen müssen, (über-)fordern. Die Schwierigkeiten können mit einem angemessenen Beratungszugang (pro-aktiv, Berücksichtigung der Zugangsbarrieren) und mit einer angemessenen Gestaltung von Beratung (Clearingstelle, entsprechende Fachlichkeit und verlässliche Grundlagen der Arbeit) aufgefangen werden. Die Beratung für Migrantinnen, Maßnahmen im Zusammenhang mit Suchtproblemen, Strukturen im ländlicher Raum sowie Angebote für Kinder, männliche Opfer und Frauen als Täterinnen sind weiter zu entwickeln. Wesentlich ist eine gute Kooperation der am Platzverweisverfahren beteiligten Institutionen und Einrichtungen und eine verlässliche Einbindung der Stellen, die Erstberatung und weiterführende Beratung anbieten.

Veröffentlichungen

HELFFERICH, Cornelia; (2007): Häusliche Gewalt und Geschlechterbeziehungen – neue Gerechtigkeitsdiskurse, moralische Dilemmata und offene Fragen. In: Schwendemann, W., Marquard, R. (Hg.): 450 Jahre Reformation in Baden. Bildung und Sozialgestaltung des Protestantismus. Berlin: LIT-Verlag, 23-37

HELFFERICH, Cornelia; KAVEMANN, Barbara (2006): Ethik und Gewalt in Geschlechterbeziehungen. In: Susanne Dungs, Uwe Gerber, Heinz Schmidt, Renate Zitt (Hg.): Soziale Arbeit und Ethik im 21. Jahrhundert. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 539-552 

HELFFERICH, Cornelia; (2005): Die Situation von Frauen und der Beratungsbedarf nach einem ‚Platzverweis‘ bei häuslicher Gewalt. Eine Untersuchung im Auftrag des Sozialministeriums Baden-Württemberg. In: Bannenberg, Britta, Coester, Marc, Marks, Erich (Hg.): Kommunale Kriminalprävention. Ausgewählte Beiträge des 9. Deutschen Präventionstags. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, 115-127
http://www.praeventionstag.de/html/GetDokumentation.cms?XID=75

HELFFERICH, Cornelia; (2005): Die Wahrnehmung der eigenen Handlungsmacht und die Konstellation Opfer – Polizei – Täter bei häuslicher Gewalt. In: Kury, Helmut; Obergfell-Fuchs, Joachim (Hg.): Gewalt in der Familie. Für und Wider den Platzverweis. Freiburg: Lambertus, 309-329

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Abschlussbericht